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Abschluss der Jahresgruppen 2016/2017 am 20. Januar 2017

Mit überaus fantasievollen, engagierten und gut ausgearbeiteten Beiträgen zum diesjährigen Kreativprojekt überraschten uns unsere Teilnehmerinnen während der Abschlussveranstaltung zum aktuellen Akademischen Jahr 2016/2017. Unter dem Motto „Wenn Du geredet hättest …“ kamen ganz unterschiedliche Charaktere aus Shakespere-Stücken zu Wort, die endlich das aussprachen, was sie schon immer einmal sagen wollten. Dokumentiert sind die entstandenen Texte in einer wunderschön gestalteten Broschüre, die zudem einen ausführlichen Überblick über die beiden behandelten Jahresthemen bietet.

Im Anschluss an die Vergabe der Zertifikate an die Teilnehmerinnen gaben Christina Rohwetter und Sabine Göttel einen Einblick in die geplanten Jahresthemen 2017/2018 . Das Jahr klang schließlich mit einem gewohnt gut organisierten, köstlichen Abendessen im Hotel Schweizer Hof aus.

Allen TeilnehmerInnen der Montags- und der Dienstagsgruppe herzlichen Dank für die wunderschöne gemeinsame Zeit, die Einladung zum Essen und die netten Geschenke! Auf ein neues, inspirationsreiches Akademisches Jahr 2017/2018!

Fotos: Ursula Metzenheim

Johanna Schopenhauer (1766 – 1838)

Gehorsames Herzenskind

Johanna Schopenhauer, Mutter des berühmten Philosophen Arthur Schopenhauer, war bereits zu Lebzeiten eine gefeierte Schriftstellerin und Dame der Gesellschaft. In ihrem Weimarer Salon war auch Goethe gern zu Gast. Vor 250 Jahren, am 9. Juli 1766, wurde sie in Danzig geboren.

Als die bereits an den Rollstuhl gefesselte Johanna Schopenhauer mit über 70 Jahren die Geschichte ihres Lebens aufschreibt, möchte sie vor allen Dingen eines nicht: Sie möchte ihre Leser nicht langweilen. Das Erzählen, schreibt sie – und denkt vielleicht an den noch nicht lange verstorbenen Gast ihres Weimarer Salons, den Geheimrat Goethe – ist die beste Altersunterhaltung. Ihr ist wichtig, dass das Rein-Persönliche hinter das beabsichtigte „Sittengemälde meiner Zeit“ – wie sie sagt – zurück tritt. Und sie beteuert: „Mit meinen Herzensangelegenheiten will ich die Welt ganz verschonen“.

Herzensangelegenheiten“ in Hülle und Fülle hat Johanna bereits in ihre viel gelesenen Entsagungsromane gepackt. Diese handeln von reichlich exzentrischen weiblichen Gefühlen – wie der Roman „Gabriele“ aus dem Jahr 1820. Die Autorin selbst aber möchte weder als kühl-gelehrtes noch als exzentrisch-poetisierendes, sondern als ein ganz normales junges Mädchen gesehen werden. Als gelehrter Blaustrumpf jedenfalls will die Berufsschriftstellerin und Freundin berühmter Persönlichkeiten auch nach vielen literarischen und kulturhistorischen Veröffentlichungen auf keinen Fall gelten. Sie sei vielmehr „eine heitre, anspruchslose alte Frau, der man im geselligen Umgange die Schriftstellerin gar nicht anmerkt“. Und darauf, so schreibt sie weiter, „bilde ich mir etwas ein“.

In ihrer Autobiografie „Jugendleben und Wanderbilder“ (1839) zeichnet Johanna Schopenhauer ein ungetrübtes Bild ihrer frühen Kindheit. Doch auch sie erlebt Dinge, die die Sicht des Mädchens auf ihr Leben entscheidend verändern: In ihrer Geburtsstadt Danzig wird die kleine Jeanette (eigentlich Johanna Henriette) Trosiener Augenzeugin von Lynchjustiz, Spießrutenlaufen und Verhaftungen und sieht sich zum ersten Mal mit existentieller Angst konfrontiert. Ihre republikanische Gesinnung, ihre Weltoffenheit und Toleranz, so betont sie, stammen aus der Zeit ihrer Kindheit, die sie in der multikulturellen pommerschen Stadt an der Ostsee verbringt. Dazu liest Johanna heimlich die ihr streng verbotenen alten Griechen und Römer. Hebt Johanna im Alter auch immer wieder hervor, welch unspektakuläre Frau sie sei, so verzichtet sie jedoch nicht darauf, die kleine Jeanette als etwas ganz besonderes hervorzuheben. Jeanette ist nicht nur die Lieblingsschülerin aller Lehrer in den Danziger Schulen, sondern auch das ‚Herzenskind’ ihres Privatlehrers Jameson. Als Erwachsene avanciert sie zur favorisierten Gesprächspartnerin berühmter Männer und ist ein eloquenter und gern gesehener Gast in fremden Ländern, die sie in Begleitung ihres Ehemannes, eines begüterten Danziger Geschäftsmannes, bereist.

Doch Johanna sieht sich auch mit größeren Enttäuschungen konfrontiert. Ihre unglückliche erste Liebe erwähnt sie nur am Rande. Ausführlich dagegen erzählt sie von ihrem Herzenswunsch, Malerin zu werden. Der Vater reagiert spöttisch und streng auf das für eine Tochter der besseren Gesellschaft unmögliche Ansinnen. Johanna: „Und noch jetzt nach mehr als sechzig Jahren, verweile ich ungern bei der Erinnerung, wie unbarmherzig er meinen kindisch-abgeschmackten Einfall, wie er ihn nannte, verlachte.“

Trost sucht die Zehnjährige – ganz Republikanerin und Tochter des aufgeklärten Zeitalters – in vernünftigen Gedanken, mit denen sie ihre Verletzung überspielen will: Der „Geist der Zeit“ war eben gegen solche hochfliegenden Frauenträume. Die vernünftige Jeanette ergibt sich dem Schicksal der höheren Tochter. Doch ihren Traum hat sie, so scheint es, niemals ganz aufgegeben: Sie wird später kunsthistorische Schriften verfassen und ihre Lebensgeschichte mit bildhaften Beschreibungen aus dem Bereich der Malerei ausstatten. Weil lockere Unterhaltung ihr oberstes Gebot ist, zeigt sich Frau Schopenhauer „im ganzen wohl zufrieden“ und behält im Alter trotz allem „ein wunderbar weiches, aus Freude und Leid zusammengesetztes Gefühl“ zurück.

Gehorsames Herzenskind bleibt Johanna auch in der Vernunftehe mit dem 20 Jahre älteren Patrizier Heinrich Floris Schopenhauer. Die durch ihre Heirat erzwungene „gänzliche Umwandlung (ihrer) gewohnten Existenz“ – sprich: die Einsamkeit und Einförmigkeit ihres Lebens als Ehefrau – meistert sie angeblich durch „guten Willen“, „Jugendmut“ und „Mutterwitz“. Doch ihre Romane sprechen eine andere Sprache. Sie erzählen von tragischen Heldinnen, die auf ihre wahre Liebe verzichten und in unglücklichen Konvenienzehen lieblosen, tyrannischen Gatten ausgeliefert sind – ein Schicksal, mit dem sie sich demütig abfinden.

Johanna Schopenhauer bemühte sich sehr, eine vorbildliche, gebildete, aber nicht ‚gelehrte# Bürgersfrau zu werden. Ihre Leben war von strengen Normen geprägt, die sie nicht in Frage stellte. Nicht eigentlich emanzipiert, wurde sie dennoch zu einer Pionierin auf dem Gebiet weiblichen autobiografischen Schreibens. Vor ihr haben Frauen nur sehr selten über ihr Leben berichtet, während sich bereits zahlreiche Männer in ihren Memoiren selbstbewusst ein Denkmal gesetzt hatten. Einer davon ist Johannas verehrtes Vorbild Johann Wolfgang Goethe, der mit „Dichtung und Wahrheit“ die Vorgabe für eine ganze Epoche bürgerlicher Lebensbeschreibungen lieferte. Johanna Schopenhauer starb am 16. April 1838 in Jena, wohin sie, krank, verarmt und ausgestattet mit einer Ehrenpension des Weimarer Herzogs Karl Friedrich, im Jahr vorher mit ihrer Tochter Adele gezogen war. Auch Adele wurde Schriftstellerin, konnte sich im Bewusstsein der literarischen Welt jedoch nicht neben ihrer glamourösen Mutter und dem Ruhm ihres Philosophen-Bruders Arthur behaupten.

Inge Müller (1925-1966)

Ein Leben und viele Tode

Inge Müller ist vor allem als Mitarbeiterin ihres berühmten Ehemannes, des Schriftstellers Heiner Müller, bekannt. Dabei war sie als Autorin absolut eigenständig. In Gedichten, Prosatexten und Tagebüchern brachte sie den Krieg als Glutkern privater und öffentlicher Geschichte zur Sprache. Vor 50 Jahren – am 01. Juni 1966 – suchte Inge Müller in Ost-Berlin den Freitod. Von Sabine Göttel

Das Foto eines Berliner Mietshauses aus den dreißiger Jahren: Erker, Balkone, Klinkerfassade. Die Fenster sind mit Kreuzen aus schwarzen Kugelschreiberstrichen übermalt. Über einer Kellerluke die Inschrift: 19 Tote. Auf der Rückseite des Fotos steht: „Mein Zuhause“. Das Haus, in dem die Luftwaffenhelferin Inge Müller mit ihren Eltern wohnt, wird im April 1945 bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Inge Müller, damals noch Ingeborg Meyer, birgt man nach drei Tagen lebend aus den Trümmern. Sie gräbt im Schutt weiter nach den Eltern. Beide sind tot. Als sie mit einer Bahre zurückkommt, um die Toten zu bergen, fehlt an der Hand der Mutter der Finger mit dem goldenen Ehering.

„Übriggeblieben zufällig“

Inge Meyer ist zwanzig Jahre alt, als sie das Trauma der Verschüttung durchlebt. Geboren am 13. März 1925, wächst sie im Berliner Osten auf. Die Eltern arbeiten beide im Ullstein-Verlag. Der ältere Bruder Wolfgang stirbt kurz nach Inges Geburt; zeitlebens leidet sie unter dem Eindruck, ein ungenügender Ersatz für diesen Bruder gewesen zu sein. Inge besucht die Handelsschule, lernt das Akkordeonspielen und bekommt Ballettunterricht. Zwei Fotos zeigen sie während des Reichsarbeitsdientes in der Steiermark: lächelnd und schwungvoll bei der Feldarbeit eines, mit Akkordeon in fröhlicher Runde das andere. Während des Krieges arbeitet sie unter anderem als Straßenbahnschaffnerin, Stenotypistin und Sekretärin. 1945 wird sie zur Wehrmacht einberufen und einer Kraftfahrtruppe zugewiesen. Sie versucht zu desertieren und wird zur „Flak“ strafversetzt. Dann die Verschüttung. Ihr Beinahe-Tod in den Trümmern und ihr Überleben sind der Glutkern persönlicher und geschichtlicher Tragik. Aus dieser Erfahrung heraus wird sie, die zufällig Übriggebliebene, zur Dichterin: „Da fand ich mich/Und band mich in ein Tuch:/Ein Knochen für Mama/Ein Knochen für Papa/Einen ins Buch“ (Trümmer 45).

Die Wunde Krieg

Doch nicht sofort findet die Traumatisierte zu den Worten, zu verdichteter Sprache. Zunächst versucht sie, ihre Erlebnisse in der vermeintlichen Sicherheit einer Existenz als Ehefrau und Mutter zu bannen. Sie arbeitet als Trümmerfrau, engagiert sich in der Seuchenbekämpfung, betreut alte Menschen. Dann wiederum flieht sie die Ehe und ist zwei Jahre lang mit dem Zirkus Busch und Barlay unterwegs. Dessen Direktor, Herbert Schwenkner, wird ihr zweiter Ehemann. Als Schwenkner Leiter des Friedrichsstadt-Palastes in Berlin wird, gehört die Familie zur Funktionärsschicht der DDR. Man ist Mitglied der SED und wohnt in der Prominentensiedlung Lehnitz-Oranienburg. Jetzt, zu Beginn der 50er Jahre, beginnt Inge Schwenkner zu schreiben – vor allem Märchen, Sagen, Rätsel, Gedichte, Lieder und Revuen für Kinder. Ihre Bücher künden von einem didaktischen Impuls, wollen für ein Leben in der Gemeinschaft, für die gegenseitige Achtung voreinander und für den Respekt gegenüber Schwächeren sensibilisieren. Sie handeln vom geschwisterlichen Umgang mit Tieren und mit der Natur. Und sie sind getragen vom Glauben an eine kreative Kraft, die das Kind Anfechtungen von außen entgegenzuhalten weiß.

Die Gedichte, die parallel zu den Kinderbüchern entstehen, nehmen den Ton von Abzählversen und Kinderreimen auf. Noch bleibt das Trauma der Verschüttung ausgespart. Doch Lakonie und Prägnanz nehmen diesen Versen den Schnörkel der heilen Welt: „Ich steh mit einem Bein im Grab/Was mach ich mit dem zweiten./Ich muß mich dich begleiten./Ich hack das erste ab.“ Die Wunde Krieg macht aus Kindern kleine Erwachsene, die um die Kindheit betrogen wurden. Spracharbeit wird zu Knochenarbeit.

Selbsttaufe mit Worten

Ab 1953 ist Inge Schwenkner als freischaffende Schriftstellerin tätig. Sie textet Bildbände, arbeitet als Journalistin und Dramaturgin für Film und Theater. Ihre Prosaarbeiten und ihre Gedichte bleiben jedoch überwiegend ungedruckt; den Verlagen künden sie zu wenig vom Pathos der sozialistischen Aufbaujahre. Es dauert lange, bis sie artikulieren kann, was ihr bisher nur als stummer Schrei, als wortloses Bild, als schmerzender Abdruck im Körper zugänglich war: Krieg, Tod und Verschüttung. Doch dann beginnt sie, sich schreibend zu erinnern. Von Blut, Knochenbergen, Schutt und Staub ist jetzt die Rede; gleichzeitig sind ihre Texte eine Selbstvergewisserung, eine Selbsttaufe mit Worten, ein Neubeginn – eine Auferstehung aus dem Bauch des Wals, von Gott am Sterben gehindert („Jona-Fragment“).

Mitte der 50er Jahre dann ein erneuter Anfang: das Leben und die Arbeit mit Heiner Müller. Als sich Inge Schwenkner und Heiner Müller 1953 begegnen, ist sie bereits eine gefragte Nachwuchsautorin, während er, der vier Jahre Jüngere, bei Freunden wohnt und sich mit Buchbesprechungen durchschlagen muss. Sie heiraten 1955. Zunächst gibt die Kunstdoktrin der DDR den Rahmen für die gemeinsame Arbeit für Rundfunk und Theater vor. Für das Hörspiel „Die Korrektur“ und das Theaterstück „Der Lohndrücker“ studiert das Ehepaar den proletarischen Alltag im Industriekombinat „Schwarze Pumpe“. 1959 erhalten sie gemeinsam den Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste Berlin. Auch mit eigenen Arbeiten ist Inge Müller erfolgreich; 1961 wird sie mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze für ihr Hörspiel „Die Weiberbrigade“ geehrt.

Zunehmende Isolation

Das Jahr des Mauerbaus markiert einen Wendepunkt in der Arbeit des Ehepaars Müller. 1961 darf ihr Stück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ nicht öffentlich aufgeführt werden und Heiner Müller wird aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Durch die Erfahrung der Zensur werden Inge Müllers Gedichte mehr und mehr durchlässig für aktuelle politische Themen. In einer Reihe lyrischer Porträts literarischer Weggenossen findet sie leise Töne gegen den schreienden DDR-Stalinismus. Sie ist zwar keine Dissidentin und hat den Glauben an das Glücksversprechen des Sozialismus noch nicht ganz aufgegeben. Aber Inge Müller ist von der schreibenden Funktionärsgattin und staatlich dekorierten Nachwuchshoffnung zur unbequemen Autorin geworden, die zunehmend in die Isolation gerät.

Zudem drängt sich ihr die Vergangenheit in häufig wiederkehrenden manisch-depressiven Schüben und in starken körperlichen Schmerzen auf. Immer mehr Zeit verbringt sie im Krankenhaus, ohne dass sich die Beschwerden bessern. Sie versucht mehrfach, ihr Leben mit der unerträglichen Schuld, überlebt zu haben, zu beenden. Tagebuchfragmente dokumentieren die Sehnsucht nach Vitalität, Austausch und nach Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit mit Heiner Müller. Aber sie verschweigen nicht, dass das Zusammenleben der beiden Schriftsteller auch problematisch ist: Eine Frau und ein Mann, die sich lieben, die zusammen arbeiten – und die doch permanent die Machtfrage stellen. Inge Müller ringt um ein Gleichgewicht zwischen kreativer Sendung, Ehe und Mutterrolle: „Mein Mann, mein Kind, mein Schreiben – keins VOR dem andern, keins?“

Anfang und Ende

Weil Anfang und Ende Inge Müllers in den Kriegstrümmern so nah beieinander lagen, erscheint ihre Selbsttötung im Jahr 1966 wie eine endgültige, schließlich gelungene Wiederholung – ein geglückter nach vielen verfehlten Toden. Heiner Müller findet seine Frau Inge am 1. Juni 1966 tot neben dem Gasherd. In seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“ heißt es: „Ich stand kurz unter Mordverdacht, weil sie keinen Abschiedsbrief geschrieben hatte. Ihr Abschiedsbrief waren die Gedichte, die sie in den letzten acht Jahren schrieb.“ Seit 1996 erinnert eine Stele auf dem Städtischen Friedhof III in Berlin-Pankow an die außergewöhnliche Dichterin: „Ich habe dich heute Nacht verlassen/Für lange Zeit, mir ist: für immer./Der Morgen war ein graues Zimmer/Und als du gingst war Rauch in den Straßen.“

Geselliger Abschluss der Jahresgruppen 2015/2016 am 8. Februar

Am 8. Februar beschlossen die beiden Jahresgruppen das Akademische Jahr 2015/2016 in den Räumen von Literatur&Leben mit einer gemeinsam gestalteten Abschlussfeier. Im Mittelpunkt stand die Lesung von Texten, die die Teilnehmerinnen im Zusammenhang mit unserer Studienreise nach Potsdam und ins Havelland angefertigt hatten: Vielfältig und informativ, nachdenklich und humorvoll, poetisch und satirisch reflektieren sie die Begegnung mit Menschen, Bauwerken und Landschaften in diesem einmaligen Kulturraum – immer mit einer unverwechselbar persönlichen Note.

Nach der feierlichen Übergabe der Zertifikate an die Teilnehmerinnen erhielten die Dozentinnen ihrerseits ein Dankeschön: eine mit großer Sorgfalt gestaltete Broschüre, die die vorgetragenen Texte, selbst aufgenommene Fotos und eine Zusammenfassung der Jahresthemen 2016/2017 enthält. (Von hoher Qualität waren auch die mitgebrachten Berliner und andere Köstlichkeiten (es war schließlich Rosenmontag!), die uns die Zeit versüßten.)

Ein gemeinsames Essen im Hotel Schweizer Hof rundete den gelungenen Vormittag ab.

Wir bedanken uns nochmals herzlich bei unseren Teilnehmerinnen und freuen uns auf die gemeinsame Zeit im neuen Akademischen Jahr  2016/2017!

Hildegard Knef (1925-2002)

Keine Zeit für Stolz

Die Schauspielerin und Chansonlegende Hildegard Knef wäre am 28. Dezember 2015 90 Jahre alt geworden. 2002 starb der glamouröseste deutsche Weltstar nach Marlene Dietrich in Berlin. Mit ihrer Autobiografie „Der geschenkte Gaul“ machte sie 1970 auch literarisch Furore

Sie war die Ikone einer Generation von Müttern und Töchtern, die aufmüpfig und intellektuell und doch Frau sein wollten – nicht so schräg und absturzgefährdet wie Nico, nicht so philosophisch abgehoben wie Juliette Gréco. Hildegard Knef, das war die Berliner, die bodenständig-deutsche Variante des französischen Existentialismus: blond statt tiefschwarz, in aufwendigen Rüschenroben statt schlichtem Rollkragen, verlässlich umweht vom geborgten Glamour ferner Hollywoodstars. Vom „intellektuellen Sex“ der Knef sprach denn auch stern-Herausgeber und Freund Henri Nannen; zur „woman and a half“ stilisierte sie Schauspielerkollege und Ex-Ehemann David Cameron. Die kluge Knef wusste um ihre Ausstrahlung. Sie inszenierte sich permanent rauchend, redete von Poesie, kultivierte ihre markante, untergründig erotische Stimme, gab sich mal kumpelhaft, mal undurchdringlich. Ihre durch überdimensionale künstliche Wimpern und viel schwarze Schminke offensiv betonten Augen waren Aufforderung und Warnung zugleich: Schaut mich an, aber den letzten Blick in meine Seele verwehre ich euch. Die Augen der Knef glommen wie das Brandmal eines Traumas, das sie, nach eigenem Bekunden, bis zu ihrem Lebensende mit sich herumtrug. Aus ihm bezog sie ein Leben lang ihre bezaubernde Melancholie.

Hildegard Frieda Albertine Knef war knapp zwanzig Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. In ihrer 1970 erschienenen, rasant erzählten Autobiografie Der geschenkte Gaul – ein Buch, von dem 750 000 Hardcover-Exemplare verkauft wurden und das seine Autorin mit einem Schlag national und international berühmt machte – nimmt der „Wahnwitz“ der Kriegs- und Nachkriegszeit (Knef) breiten Raum ein. Zentral: Die Ungeheuerlichkeit, tagelang neben einer toten Frau in einem völlig dunklen Loch eingesperrt zu sein. Dieses Erlebnis zeichnet sich auf dem Gesicht der jungen Schauspielerin ab und macht die Nähe des Leidens in Filmen wie Die Mörder sind unter uns (1947), Entscheidung vor Morgengrauen (1951; mit Oscar Werner), und Nachts auf den Straßen (1952; mit Hans Albers) spürbar. Und es generiert diesen fast sprichwörtlich gewordenen Überlebenswillen der Knef, ihre beneidenswerte Fähigkeit, sich gegen alle Fährnisse des Berufs und des Privatlebens trotzig zu behaupten. Dass der eine oder andere Biograf in der letzten Zeit die historische Richtigkeit einiger Schilderungen anzweifelt, ändert nichts an der Tatsache, dass Hildegard Knef eben nicht nur für ihre Erfolge, sondern gerade auch wegen ihres multiplen Scheiterns geliebt wurde – getreu dem Grundsatz: Wahr muss es nicht sein, aber stimmen muss es. In diesem Sinne nannte sie Von nun an ging’s bergab, einen ihrer 60er-Jahre-Hits, der sich aus Misserfolgen und Rückschlägen in ihrem Leben speist, nicht ohne Selbstironie einen „Lebenslauf wider den tierischen Ernst“.

Nicht genug zu feiern ist die künstlerisch vielfach begabte Hildegard Knef. Frühe Erfolge als Sängerin waren ihr bereits in den USA beschert, wohin sie 1947 mit hohen Erwartungen aufgebrochen war, aber als Schauspielerin in der „Hollywood-Diktatur“ (Knef) nicht den erhofften Erfolg erzielte. Erst das Musical Silk Stockings machte sie 1954 am Broadway berühmt. Zurück in Europa, drehte sie einige „falsche“ Filme (Knef), die ihr das Fußfassen zuhause nicht eben erleichterten. Zäh und energisch versuchte sie, sich gegen das Misstrauen zu behaupten, das ihr die Deutschen entgegenbrachten – wie schon vor ihr Marlene Dietrich und nach ihr Romy Schneider, die ebenfalls das Land verlassen hatten und als „Verräterinnen“ beschimpft wurden. Mit dem Erfolg ihrer Chansons, die in ganz eigener Weise die lässige Eleganz des Jazz und die schauspielerische Interpretation mit der Eingängigkeit des Schlagers verbinden, schien Hildegard Knef rehabilitiert. Sie begann zunächst mit literarischen Songs von Brecht, Tucholsky und Brel, sowie mit Jazz-Standards und stieg später auf eigene Texte um, die ihre Karriere als Autorin und Schriftstellerin begründeten. Als „größte Sängerin der Welt ohne Stimme“ (Ella Fitzgerald) setzte sie auch in ihren Chansons am eigenen Leben an (Für mich soll’s rote Rosen regnen). Sie stattete den Alltag mit Poesie und trockenem Humor aus (Ich brauch Tapetenwechsel) und besang die ambivalente Schönheit ihrer Heimatstadt (Berlin, dein Gesicht hat Sommersprossen). Die wenigen Sekunden der Nacktheit, mit denen sie als Sünderin (Willi Forst, 1951) die prüde Filmnation einst in Wallung versetzt hatte, wurden Teil des kollektiven Gedächtnisses.

Außergewöhnlich experimentierfreudig und stets neugierig auf das Leben, blieb Hildegard Knef am Puls der Zeit. Sie äußerte sich, als es um 1968 Mode war, in Interviews über das Thema Kollektivschuld. Sie bewegte sich in Gesellschaft illustrer Namen, darunter Henry Miller und Willy Brandt, und knüpfte an neue Strömungen in der Pop-Musik an, indem sie in den frühen 70er Jahren ein damals weniger beachtetes Album mit den Les Humphries Singers aufnahm (Worum geht’s hier eigentlich). Immer aber blieb ein Rest an Inkompatibilität, mit dem sie sich Vereinnahmungsversuchen widersetzte.

1970 machte ihre Autobiografie „Der geschenkte Gaul“ bei Kritik und Publikum Furore. Das Buch stürmte Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, wurde in 17 Sprachen übersetzt und als Weltbestseller zum international erfolgreichsten Buch eines deutschen Autors seit 1945. Anlässlich einer Lesereise in den USA schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung 1971 euphorisch: „Die Kritiken waren ausnahmslos begeistert, weil hier zum ersten mal jemand berichtet, wie es damals war … jemand, der weder Dichter noch gelehrter ist, also ohne jede Verfremdung und Distanz das eigene Leben in den Hitlerjahren und danach freimütig ausgebreitet hat. Dabei war es nicht der Show-Star, sondern die offenherzige Deutsche, die Eindruck in Amerika gemacht hat, ihr intensiver Ernst, die couragierte Offenheit, mit der sie auch Unpopuläres vorbringt, Risiken nicht ausweicht, eine Ehrlichkeit, die ihr Publikum so ergreift, dass die Leute von der Akademie der Fernsehkünstler, die ihr in New York ein Essen gaben, sich am Ende erhoben und ihr eine Ovation darbrachten.“ Für ihre Bemühungen um das Ansehen Deutschlands in der Welt 1975 erhielt Hildegard Knef das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. „Der geschenkte Gaul“ hat bis heute eine Auflage von 3 Mio. Bänden erreicht; 2009 wurde das Buch unter dem Titel „Hilde“ mit Heike Makatsch kongenial verfilmt.

Auf der Höhe des Ruhms – sie ist 47 Jahre alt und hat eine fünfjährige Tochter – erkrankt Hildegard Knef an Brustkrebs. Sie, die sich nie gescheut hatte, das Privateste mit der Öffentlichkeit zu teilen („Öffentlichkeit ist mein Beruf!“) konnte, begabt mit einem mächtigen Ego, auch dieses Schicksal annehmen. Freimütig bekannte sie, methadonsüchtig zu sein und rechnete in ihrem Buch Das Urteil schonungslos mit Ärzten ab. Ein solcher Wagemut muss wohl auch als Teil der Maßlosigkeit gesehen werden, aus dem die Aura echter Stars gemacht ist. Noch die alt und krank gewordene Diva versprühte den Glamour des Weltstars. In der wunderbaren Film-Dokumentation A Woman And a Half aus dem Jahr 2001 erlebt man eine stille Knef, die darauf beharrt, dass ihr Selbstbild nicht mit dem Fremdbild der Öffentlichkeit übereinstimmt. Gewohnt trotzig besteht sie darauf, weniger aggressiv und viel ängstlicher, vorsichtiger zu sein als bisher angenommen. Sie erzählt von der Einsamkeit des Alters, von ihrer Abscheu vor Misstrauen, das einem das Leben vergälle und darüber, dass man sich zwar auf das Glück vorbereiten, es aber nicht forcieren kann. Ob sie auf ihr Lebenswerk stolz sei, wird sie gefragt, während sie mit ihrem dritten Ehemann Paul von Schell im Wagen durch New York fährt. Ihr lakonischer Kommentar: „Nein. Wer Zeit hat stolz zu sein, ist eh ein elendes Häufchen Nichts.“

Die neuen Frauen

Revolution im Kaiserreich 1900 – 1914

Sexismus und Emanzipation, Frauenquote und Vereinbarkeit von Familie und Beruf – die Wurzeln der heutigen Diskussion liegen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg.

Dieses Buch schildert die Geschichte der Emanzipation, die ein zentraler Teil der Freiheits- und Menschenrechte in Deutschland ist, und holt sie aus der Ecke der „Frauenfrage“. Barbara Beuys erzählt von der bunten, offenen, von technischem Fortschritt geprägten und – entgegen vielen Legenden – reformfähigen Gesellschaft des Kaiserreichs, wo die Frauenbewegung sich nach 1900 als Machtfaktor im öffentlichen Leben etabliert. Sie schildert das Leben der Pionierinnen, die erstmals berufstätig werden: in Büros und Postämtern, als Ärztinnen und Künstlerinnen. Wir erfahren, wie Frauenvereine selbstbewusst mit Vorträgen Sexualität und Scheidung aus der Tabuzone in die Öffentlichkeit bringen.

Das Buch handelt von einer Erfolgsgeschichte, die so noch nicht erzählt wurde. in einem breiten Panorama aus Lebensbildern – von Clara Zetkin bis Else Lasker-Schüler, von Helene Lange bis Karen Horney und Asta Nielsen  – zeigt Barbara Beuys, wie eng der Kampf um die Emanzipation und die Politik im Kaiserreich miteinander verwoben sind.- Ein spannendes Stück erzählter Geschichte.

Barbara Beuys: Die neuen Frauen. Revolution im Kaiserreich 1900 – 1914, Carl Hanser Verlag, München 2014

 

Heinrich Böll (1917-1985)

„Es gibt nichts, was uns nichts angeht“

Von wegen Elfenbeinturm: Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll forderte kritische Stellungnahmen zu Politik und Gesellschaft von seiner Zunft. Zeit seines Lebens zeigte er sich von der moralischen Wirkung der Literatur überzeugt. Am 16. Juli 2015 jährte sich sein Todestag zum 30. Mal

Im aufgeheizten Klima der vom Terror erschütterten Bundesrepublik verunglimpfte man ihn als „Sympathisanten“ der RAF, weil er sich für Sachlichkeit und Mäßigung in der Berichterstattung einsetzte: Heinrich Bölls Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“, 1972 im Spiegel erschienen, löste einen Skandal aus und führte zur polizeilichen Durchsuchung seiner Wohnung. Vor allem an der vermeintlich intimen Anrede Ulrike Meinhofs entzündete sich die öffentliche Wut; dabei war der Titel eine Zutat der Redaktion – gegen den Willen des Autors. Trotz aller Anfeindungen engagierte sich Heinrich Böll weiter direkt politisch. 1974 gewährte er dem aus der UdSSR ausgebürgerten Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn Asyl in seinem Haus und empfing den mit ihm eng befreundeten russischen Dissidenten und Weltbürger Lew Kopelew. 1983 war Böll prominenter Teilnehmer der Blockade des US-Militärlagers in Mutlangen und Redner auf der Bonner Friedensdemonstration. Bereits 1969 hatte er Willy Brandt im Bundestagswahlkampf unterstützt. Literatur und gesellschaftliche Verantwortung gehörten für Heinrich Böll untrennbar zusammen.

Heinrich Böll, Sohn eines Kunsttischlers und Bildhauers, wird am 21. Dezember 1917 in Köln geboren und wächst zusammen mit sieben Geschwistern in einem kleinbürgerlich und katholisch geprägten Milieu auf. Seine ausgeprägte Verbundenheit mit Familie, Religion und Region – die „Gebundenheit an Zeit und Zeitgenossenschaft“, wie es Böll später formulierte, sollte sein literarisches Werk entscheidend beeinflussen. Bereits mit 17 Jahren beginnt er, Gedichte zu schreiben. 1937 macht er in seiner Heimatstadt Abitur. Nach einer abgebrochenen Lehre als Buchhändler in Bonn und dem Einsatz im Reichsarbeitsdienst schreibt er sich an der Universität Köln in den Fächern Germanistik und Altphilologie ein, wird jedoch kurz darauf zur Wehrmacht eingezogen. Als Soldat an der West- und Ostfront eingesetzt, gerät er bei Kriegsende in Gefangenschaft. Im September 1945 kann er zu seiner Frau Annemarie Cech, einer Lehrerin, nach Köln zurückkehren und sein Studium wieder aufnehmen. Bis 1950 werden drei Söhne geboren.

In den Nachkriegsjahren trägt Böll zunächst mit Gelegenheitsarbeiten zum Unterhalt der Familie bei; doch das Schreiben wird immer bedeutsamer für ihn. 1947 debütiert er mit Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften; 1949 erscheint sein erstes Buch, die Erzählung „Der Zug war pünktlich“. Ein Sammelband mit Kurzgeschichten folgt 1950 unter dem Titel „Wanderer kommst du nach Spa…“ Seit 1951 arbeitet Heinrich Böll als freier Schriftsteller. Es ist das Jahr, in dem er für seine Satire „Die schwarzen Schafe“ den Preis der Gruppe 47 erhält und in dem sein ergreifender Antikriegsroman „Wo warst Du, Adam?“ erscheint. Auch der 1953 veröffentlichte Roman „Und sagte kein einziges Wort“ – die Ehegeschichte eines Kriegsheimkehrers – steht im Bannkreis traumatischer Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Im Taumel des Wiederaufbaus und der Wirtschaftswunderzeit, die vor allem das Vergessen propagiert, mahnt Heinrich Böll: „Der Krieg wird niemals zu Ende sein, solange noch eine Wunde blutet, die er geschlagen hat.“

In den fünfziger Jahren wird Böll zu einem bedeutenden Vertreter der westdeutschen Nachkriegsliteratur, die an die Tradition nonkonformistischer und sozialkritischer Werke in der Weimarer Republik anknüpft. Er schreibt Gedichte, Romane und Erzählungen, wie „Haus ohne Hüter“ und „Das Brot der frühen Jahre“ (1962 verfilmt); er reist nach Irland und in die UdSSR und verfasst Reiseberichte wie das heute noch beliebte und 2007 wieder neu aufgelegte „Irische Tagebuch“. Zusammen mit seiner Frau Annemarie arbeitet Böll auch als Übersetzer englischer, irischer, amerikanischer und australischer Literatur. Zahlreiche Auszeichnungen begleiten seine Karriere, darunter 1967 die bedeutendste deutsche Ehrung für Autoren, der Georg-Büchner-Preis. 1972 erhält er den Nobelpreis für Literatur – als erster deutscher Autor nach 43 Jahren.

In den Jahren 1970 bis 1974 setzt sich Heinrich Böll als Präsident des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und des Internationalen P.E.N.-Clubs für die sozialen Belange von Autoren sowie für verfolgte Schriftsteller in aller Welt ein. Sein besonderes Interesse gilt der Aussöhnung zwischen Deutschland und den osteuropäischen Ländern, während er sich in Deutschland selbst – mittlerweile zu einer hochangesehenen moralischen Institution geworden – vehement gegen Repression und Aufrüstung einsetzt.

Nach den vielgelesenen Romanen „Billard um halbzehn“ (1959), „Ansichten eines Clowns“ (1963) und „Gruppenbild mit Dame“ (1971; 1977 mit Romy Schneider verfilmt) erschien 1974 sein erfolgreichstes Werk, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – eine Erzählung über die menschenverachtenden Auswirkungen des Sensationsjournalismus. 1975 erscheint die satirische Kurzgeschichte „Berichte zur Gesinnungslage der Nation“.
Da Bölls Werke fast immer in Bezug stehen zu den gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit, nannte sie Wolfram Schütte einen „fortlaufenden Kommentar zur Geschichte Nachkriegsdeutschlands“. Wie kein zweiter begleitete Böll Generationen von Lesern auf ihrem Weg durch Krieg, Restauration, Reformära und die Zeit der konservativen Wende in den 80er Jahren. Diese literarisch gestaltete und zutiefst moralisch engagierte Zeitzeugenschaft ist der Kern seiner Arbeit. Oft wurde ihm von der Kritik vorgeworfen, seine Erzählmuster seien konventionell, seine Technik manchmal unbeholfen. Doch Literatur, so forderte Böll, müsse auch einem breiten Publikum zugänglich und verständlich sein; Ästhetizismus und Avantgardismus waren seine Sache nicht. So trug er mit seinen Werken, die in viele Sprachen übersetzt wurden, entscheidend dazu bei, dass das im Ausland lange fortlebende Bild des „hässlichen Deutschen“ revidiert wurde.

1983 wurde er zum Professor ernannt und erhielt die Ehrenbürgerwürde der Stadt Köln. Heinrich Böll starb am 16. Juli 1985 nach langer Krankheit in Langenbroich. Sicherlich hätte er, der in den 70er Jahren Rupert Neudecks Initiative zur Rettung der vietnamesischen boat people unterstützte, heuer vehement an unsere Verantwortung für die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer appelliert. Denn: „Es gibt nichts, was uns nichts angeht“.

Reise ins Havelland – Nachlese

Schreiben auf Reisen – 28.-30.08.2015

Innerhalb des aktuellen Jahresprogramms „Literatur und Reisen“ erkundeten die beiden Jahresgruppen Ende August Potsdam und das umliegende Havelland auf den Spuren Theodor Fontanes. Die Teilnehmerinnen zeigten sich begeistert von der einmaligen Natur- und Kulturlandschaft, in der man der älteren und jüngeren Geschichte Deutschlands auf Schritt und Tritt begegnet. Programmpunkte waren u.a.: Führung durch das Fontane-Archiv-Potsdam, Führung durch die Pfaueninsel, Führung durch die Villenkolonie Babelsberg. Die kommenden Seminartermine im 2. Trimester nutzen die Teilnehmerinnen dazu, die 3tägige Reise auf der Grundlage ihrer Notizen, Souvenirs, Fotos etc. unter dem Motto „Schreiben auf Reisen“ zu „gestalteter Erfahrung“ zu verwandeln. Wir freuen uns schon sehr auf die Präsentation der Ergebnisse!

Fotos: Beatrice Bürrig,  Ursula Metzenheim

Nachlese: Literatur und Boxen

Am 21. September 2015 stellten zwei vielversprechende junge Autorinnen im Literaturhaus Hannover ihre neuen Bücher in Lesung und Gespräch vor. Veranstalter waren die Akademie Literatur & Leben in Zusammenarbeit mit dem Literaturbüro der Landeshauptstadt Hannover und der Gedenkstätte Ahlem der Region Hannover. Das gemeinsame Thema lautete:

Literatur und Boxen –
Johann Rukelie Trollmann und Max Schmeling

In ihrem flirrenden Gesellschaftspanorama „Deutscher Meister“ erzählt Stephanie Bart von dem charismatischen Boxer Johann Rukelie Trollmann aus Hannover, dem die Nazis im Sommer 1933 den deutschen Meistertitel aberkennen, weil er ein Sinto ist. Vom Siegen und Verlieren, vom Zu-Boden-Gehen und Weitermachen, von Leben und Tod handelt auch Saskia Hennig von Langes Roman „Zurück zum Feuer“. Hier geraten die Protagonisten in die Aura Max Schmelings und nehmen den Kampf auf gegen das Verschwinden außerhalb des Boxrings.

Sabine Göttel und Christina Rohwetter von der Akademie Literatur und Leben moderierten das Gespräch über Lebensgeschichten im Bannkreis historischer und poetischer Wahrheit, an dem sich auch das Publikum rege beteiligte.

Elke Oberheide vom Kulturbüro Hannover begrüßte unter den ca. 80 Zuhörerinnen und Zuhörern als Ehrengäste Rita Trollmann, die Tochter Johann Trollmanns, sowie weitere Mitglieder der Familie des Boxers.

Stephanie Bart, geboren 1965, studierte Ethnologie und Politische Wissenschaften an der Universität Hamburg. Als Autorin debütierte sie mit dem Roman „Goodbye Bismarck“. Für „Deutscher Meister“ erhielt sie ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds sowie den Rheingau Literatur Preis.

Saskia Hennig von Lange, geboren 1976, studierte Angewandte Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte an der Universität Gießen. Ihr Debüt „Alles, was draußen ist“ erhielt den Wortspiele Literaturpreis und den Rauriser Literaturpreis. Ihr Roman „Zurück zum Feuer“ wurde mit dem Clemens-Brentano-Förderpreis ausgezeichnet. Saskia Hennig von Lange nahm am diesjährigen Wettbewerb um den Ingeborg Bachmann-Preis teil.

 

Nachlese

Gastvortrag über Bertha von Suttner

Bis auf den letzten Platz besetzt war der Vortragsraum der Akademie Literatur und Leben am 27. Februar: Die Hamburger Autorin und Dozentin Martina Bölck hielt einen höchst lebendigen und informativen Bildvortrag über Leben und Werk der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914), die als „Kämpferin für den Frieden“ Geschichte machte. Doch auch als Schriftstellerin bleibt die Mitbegründerin der internationalen Friedensbewegung nach diesem Vortrag im Gedächtnis. Frau Bölck empfiehlt neben dem epochemachenden Werk „Die Waffen nieder!“ vor allem den futuristischen Roman „Das Maschinenzeitalter“. Von Suttner veröffentlichte ihn 1889 anonym, da ihr die „Vorurteile gegen die Denkfähigkeit der Frauen“ noch zu groß erschienen!

Das Maschinenzeitalter
Reprint im Zwiebelzwerg Verlag, 1983

 

Foto: Ursula Metzenheim