Inge Müller (1925-1966)

Ein Leben und viele Tode

Inge Müller ist vor allem als Mitarbeiterin ihres berühmten Ehemannes, des Schriftstellers Heiner Müller, bekannt. Dabei war sie als Autorin absolut eigenständig. In Gedichten, Prosatexten und Tagebüchern brachte sie den Krieg als Glutkern privater und öffentlicher Geschichte zur Sprache. Vor 50 Jahren – am 01. Juni 1966 – suchte Inge Müller in Ost-Berlin den Freitod. Von Sabine Göttel

Das Foto eines Berliner Mietshauses aus den dreißiger Jahren: Erker, Balkone, Klinkerfassade. Die Fenster sind mit Kreuzen aus schwarzen Kugelschreiberstrichen übermalt. Über einer Kellerluke die Inschrift: 19 Tote. Auf der Rückseite des Fotos steht: „Mein Zuhause“. Das Haus, in dem die Luftwaffenhelferin Inge Müller mit ihren Eltern wohnt, wird im April 1945 bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Inge Müller, damals noch Ingeborg Meyer, birgt man nach drei Tagen lebend aus den Trümmern. Sie gräbt im Schutt weiter nach den Eltern. Beide sind tot. Als sie mit einer Bahre zurückkommt, um die Toten zu bergen, fehlt an der Hand der Mutter der Finger mit dem goldenen Ehering.

„Übriggeblieben zufällig“

Inge Meyer ist zwanzig Jahre alt, als sie das Trauma der Verschüttung durchlebt. Geboren am 13. März 1925, wächst sie im Berliner Osten auf. Die Eltern arbeiten beide im Ullstein-Verlag. Der ältere Bruder Wolfgang stirbt kurz nach Inges Geburt; zeitlebens leidet sie unter dem Eindruck, ein ungenügender Ersatz für diesen Bruder gewesen zu sein. Inge besucht die Handelsschule, lernt das Akkordeonspielen und bekommt Ballettunterricht. Zwei Fotos zeigen sie während des Reichsarbeitsdientes in der Steiermark: lächelnd und schwungvoll bei der Feldarbeit eines, mit Akkordeon in fröhlicher Runde das andere. Während des Krieges arbeitet sie unter anderem als Straßenbahnschaffnerin, Stenotypistin und Sekretärin. 1945 wird sie zur Wehrmacht einberufen und einer Kraftfahrtruppe zugewiesen. Sie versucht zu desertieren und wird zur „Flak“ strafversetzt. Dann die Verschüttung. Ihr Beinahe-Tod in den Trümmern und ihr Überleben sind der Glutkern persönlicher und geschichtlicher Tragik. Aus dieser Erfahrung heraus wird sie, die zufällig Übriggebliebene, zur Dichterin: „Da fand ich mich/Und band mich in ein Tuch:/Ein Knochen für Mama/Ein Knochen für Papa/Einen ins Buch“ (Trümmer 45).

Die Wunde Krieg

Doch nicht sofort findet die Traumatisierte zu den Worten, zu verdichteter Sprache. Zunächst versucht sie, ihre Erlebnisse in der vermeintlichen Sicherheit einer Existenz als Ehefrau und Mutter zu bannen. Sie arbeitet als Trümmerfrau, engagiert sich in der Seuchenbekämpfung, betreut alte Menschen. Dann wiederum flieht sie die Ehe und ist zwei Jahre lang mit dem Zirkus Busch und Barlay unterwegs. Dessen Direktor, Herbert Schwenkner, wird ihr zweiter Ehemann. Als Schwenkner Leiter des Friedrichsstadt-Palastes in Berlin wird, gehört die Familie zur Funktionärsschicht der DDR. Man ist Mitglied der SED und wohnt in der Prominentensiedlung Lehnitz-Oranienburg. Jetzt, zu Beginn der 50er Jahre, beginnt Inge Schwenkner zu schreiben – vor allem Märchen, Sagen, Rätsel, Gedichte, Lieder und Revuen für Kinder. Ihre Bücher künden von einem didaktischen Impuls, wollen für ein Leben in der Gemeinschaft, für die gegenseitige Achtung voreinander und für den Respekt gegenüber Schwächeren sensibilisieren. Sie handeln vom geschwisterlichen Umgang mit Tieren und mit der Natur. Und sie sind getragen vom Glauben an eine kreative Kraft, die das Kind Anfechtungen von außen entgegenzuhalten weiß.

Die Gedichte, die parallel zu den Kinderbüchern entstehen, nehmen den Ton von Abzählversen und Kinderreimen auf. Noch bleibt das Trauma der Verschüttung ausgespart. Doch Lakonie und Prägnanz nehmen diesen Versen den Schnörkel der heilen Welt: „Ich steh mit einem Bein im Grab/Was mach ich mit dem zweiten./Ich muß mich dich begleiten./Ich hack das erste ab.“ Die Wunde Krieg macht aus Kindern kleine Erwachsene, die um die Kindheit betrogen wurden. Spracharbeit wird zu Knochenarbeit.

Selbsttaufe mit Worten

Ab 1953 ist Inge Schwenkner als freischaffende Schriftstellerin tätig. Sie textet Bildbände, arbeitet als Journalistin und Dramaturgin für Film und Theater. Ihre Prosaarbeiten und ihre Gedichte bleiben jedoch überwiegend ungedruckt; den Verlagen künden sie zu wenig vom Pathos der sozialistischen Aufbaujahre. Es dauert lange, bis sie artikulieren kann, was ihr bisher nur als stummer Schrei, als wortloses Bild, als schmerzender Abdruck im Körper zugänglich war: Krieg, Tod und Verschüttung. Doch dann beginnt sie, sich schreibend zu erinnern. Von Blut, Knochenbergen, Schutt und Staub ist jetzt die Rede; gleichzeitig sind ihre Texte eine Selbstvergewisserung, eine Selbsttaufe mit Worten, ein Neubeginn – eine Auferstehung aus dem Bauch des Wals, von Gott am Sterben gehindert („Jona-Fragment“).

Mitte der 50er Jahre dann ein erneuter Anfang: das Leben und die Arbeit mit Heiner Müller. Als sich Inge Schwenkner und Heiner Müller 1953 begegnen, ist sie bereits eine gefragte Nachwuchsautorin, während er, der vier Jahre Jüngere, bei Freunden wohnt und sich mit Buchbesprechungen durchschlagen muss. Sie heiraten 1955. Zunächst gibt die Kunstdoktrin der DDR den Rahmen für die gemeinsame Arbeit für Rundfunk und Theater vor. Für das Hörspiel „Die Korrektur“ und das Theaterstück „Der Lohndrücker“ studiert das Ehepaar den proletarischen Alltag im Industriekombinat „Schwarze Pumpe“. 1959 erhalten sie gemeinsam den Heinrich-Mann-Preis der Deutschen Akademie der Künste Berlin. Auch mit eigenen Arbeiten ist Inge Müller erfolgreich; 1961 wird sie mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze für ihr Hörspiel „Die Weiberbrigade“ geehrt.

Zunehmende Isolation

Das Jahr des Mauerbaus markiert einen Wendepunkt in der Arbeit des Ehepaars Müller. 1961 darf ihr Stück „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ nicht öffentlich aufgeführt werden und Heiner Müller wird aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. Durch die Erfahrung der Zensur werden Inge Müllers Gedichte mehr und mehr durchlässig für aktuelle politische Themen. In einer Reihe lyrischer Porträts literarischer Weggenossen findet sie leise Töne gegen den schreienden DDR-Stalinismus. Sie ist zwar keine Dissidentin und hat den Glauben an das Glücksversprechen des Sozialismus noch nicht ganz aufgegeben. Aber Inge Müller ist von der schreibenden Funktionärsgattin und staatlich dekorierten Nachwuchshoffnung zur unbequemen Autorin geworden, die zunehmend in die Isolation gerät.

Zudem drängt sich ihr die Vergangenheit in häufig wiederkehrenden manisch-depressiven Schüben und in starken körperlichen Schmerzen auf. Immer mehr Zeit verbringt sie im Krankenhaus, ohne dass sich die Beschwerden bessern. Sie versucht mehrfach, ihr Leben mit der unerträglichen Schuld, überlebt zu haben, zu beenden. Tagebuchfragmente dokumentieren die Sehnsucht nach Vitalität, Austausch und nach Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit mit Heiner Müller. Aber sie verschweigen nicht, dass das Zusammenleben der beiden Schriftsteller auch problematisch ist: Eine Frau und ein Mann, die sich lieben, die zusammen arbeiten – und die doch permanent die Machtfrage stellen. Inge Müller ringt um ein Gleichgewicht zwischen kreativer Sendung, Ehe und Mutterrolle: „Mein Mann, mein Kind, mein Schreiben – keins VOR dem andern, keins?“

Anfang und Ende

Weil Anfang und Ende Inge Müllers in den Kriegstrümmern so nah beieinander lagen, erscheint ihre Selbsttötung im Jahr 1966 wie eine endgültige, schließlich gelungene Wiederholung – ein geglückter nach vielen verfehlten Toden. Heiner Müller findet seine Frau Inge am 1. Juni 1966 tot neben dem Gasherd. In seiner Autobiografie „Krieg ohne Schlacht“ heißt es: „Ich stand kurz unter Mordverdacht, weil sie keinen Abschiedsbrief geschrieben hatte. Ihr Abschiedsbrief waren die Gedichte, die sie in den letzten acht Jahren schrieb.“ Seit 1996 erinnert eine Stele auf dem Städtischen Friedhof III in Berlin-Pankow an die außergewöhnliche Dichterin: „Ich habe dich heute Nacht verlassen/Für lange Zeit, mir ist: für immer./Der Morgen war ein graues Zimmer/Und als du gingst war Rauch in den Straßen.“