Lily Braun (1865-1916)

„Aus der Sklaverei zur Freiheit“

Sie kämpfte für das Recht der Frauen auf Arbeit und propagierte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie: Lily Braun. Am 9. August 1916 starb die Schriftstellerin, Sozialdemokratin und bedeutende Vordenkerin der Frauenbewegung in Kleinmachnow bei Berlin.

Eine Kindheit wie im Märchen? Amalie „Lily“ Braun wird am 2. Juli 1865 als älteste Tochter des preußischen Generals Hans von Kretschmann in Halberstadt geboren. Die Familie verkehrt in höfischen Kreisen; Prinzen und Prinzessinnen sind Lilys Spielkameraden. Später ist die hübsche junge Frau umschwärmter Mittelpunkt auf Bällen und anderen Vergnügungen der adeligen Gesellschaft. Französische Verwandte besitzen im Elsaß eine imposante Ritterburg. Dort genießt Lily in den Ferien das luxuriöse Leben der preußischen High Society. Ihre Großmutter mütterlicherseits, Baronin Jenny von Gustedt (1811-1890), ist die uneheliche Tochter von Jérôme Bonaparte, einem Bruder Napoléons; jeden Donnerstag empfängt sie in ihrem Berliner Salon die Kaiserin zum Tee. Mit der geistig beweglichen alten Dame versteht sich die quirlige und nicht selten aufmüpfige Lily besonders gut. 1908 widmet ihr die mittlerweile zur Schriftstellerin avancierte Enkelin das sentimental-kitschige Erinnerungsbuch „Im Schatten der Titanen“.

Jenny von Gustedt ist es auch, die ihre Enkelin immer wieder dazu ermutigt, ihren unkonventionellen Weg weiter zu verfolgen. Über ihre Kindheit schreibt Lily Braun: „Ganz gewiß, ich würde nie meine Pflicht erfüllen, schwor ich mir heimlich und suchte meine Theorie nur zu oft in die Praxis umzusetzen, indem ich tat, was mir zu tun gefiel, und Befehlen, deren Ursache und Zweck ich nicht einsah, hartnäckigen Widerstand entgegensetzte.“ Damit steht Lily im Konflikt mit den Prinzipien der adeligen und bürgerlichen Mädchenerziehung ihrer Zeit, die sich um Pflichtbewusstsein, Gottesfurcht, Disziplin und Gehorsam dreht. Von Privatlehrern vermittelt, hat eine solide Bildung lediglich den Zweck, den ‚Verkaufswert‘ einer junger Mädchen zu erhöhen und ihnen zu einer standesgemäßen Ehe zu verhelfen. Doch das ist nicht das Schicksal, das Lily von Kretschmann für sich selbst vorgesehen hat. Sie beginnt, sich mit Eltern und Pastoren über Sinn und Zweck kirchlicher Lehrsätze zu streiten und prangert das ungeschriebene Gesetz an, nach dem es für eine ‚höhere Tochter‘ unschicklich sei, einen Beruf zu ergreifen. Zum Nichtstun verurteilt, erkennt sie hellsichtig: „Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, gesund an Geist und Körper, leistungsfähiger vielleicht als viele, und ich arbeite nicht nur nichts, ich lebe nicht einmal, sondern werde gelebt.“

Als ihr Vater 1889 seine Stellung am kaiserlichen Hof verliert, muss Lily plötzlich für sich selbst sorgen. Sie verlässt ihr erzkonservatives Elternhaus und heiratet 1893 den Philosophieprofessor Georg von Gizycki, der den Sozialdemokraten nahesteht. Durch ihn wird Lily mit der sozialen Frage und dem Elend der Industriearbeiter konfrontiert. Auch mit den Themen der Frauenbewegung setzt sie sich mehr und mehr auseinander. Sie wird Autorin der Zeitschrift  „Frauenbewegung“ und Mitglied im Vorstand des Vereins „Frauenwohl“. Lily Braun vertritt die Überzeugung, dass das Recht auf Arbeit entscheidend zur Emanzipation der Frau beiträgt. „Allein die Entwicklung der Frauenarbeit kann die Frauen aus der Sklaverei zur Freiheit emporführen“, schreibt sie. Dies gilt auch für den privaten Bereich: „Die ökonomische Selbständigkeit des Weibes ist die Voraussetzung einer glücklichen Verbindung der Geschlechter, sie hilft so manche andere Klippe der Ehe umschiffen.“

Georg von Gizycki stirbt im März 1895. Lilys zweiter Mann ist der sozialdemokratische Publizist, Politiker und Reichstagsabgeordnete Heinrich Braun. Sie heiratet ihn 1896 und bekommt im Juni 1897 von ihm den Sohn Otto. Lily Brauns Eintreten für sozialdemokratische Ideale – für ihre erzkonservative Familie ein Übertritt ins Lager der Feinde! 1901 erscheint ihr Buch „Die Frauenfrage“. Es greift Themen auf, wie sie auch heute noch heiß diskutiert werden: Recht der Frau auf Arbeit, Doppelbelastung durch Mutterschaft und Erwerbstätigkeit, Herabsetzung der Arbeitszeit auf das geringste Tagesmaß, neue Formen des Zusammenlebens (Zentralküchen im sogenannten „Einküchenhaus“; Kinderkrippen), politisches und gewerkschaftliches Engagement von Frauen, Minderqualifikation von Frauen und Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit, unzulängliche Ausgestaltung der Versicherung für Wöchnerinnen sowie Unzulänglichkeit des Sozialversicherungswesens, das ganze Bereiche der Frauenarbeit wie häuslicher Dienst, Heimarbeit und Landarbeit ausschloss. Das Buch fand ein geteiltes Echo. Man warf Lily Braun fälschlicherweise vor, sie propagiere die Auflösung der Familie. Tatsächlich versuchte sie, zwischen den gemäßigten Forderungen der bürgerlichen und den radikalen Ansichten der sozialistischen Frauenbewegung zu vermitteln – und wurde dafür von beiden Seiten scharf kritisiert. Den einen zu radikal, den anderen zu gemäßigt, warf man ihr aufgrund ihrer adeligen Abstammung mangelnde Glaubwürdigkeit vor. Zwischen Lily Braun und der exponiertesten Vertreterin der proletarischen Frauenbewegung, Clara Zetkin (1857-1933), kam es zu einem zermürbenden persönlichen und politischen Machtkampf.

Lily Braun nimmt weiter an Parteitagen und Frauenkonferenzen teil und unterstützt die SPD in Wahlkämpfen, doch das Schreiben wird immer bedeutsamer in ihrem Leben – und macht sie finanziell unabhängig. Mit ihrem Buch „Memoiren einer Sozialistin“, einer Mischung aus Liebesgeschichten und politischen Bekenntnissen, schreibt sie in den Jahren 1909 bis 1911 einen Bestseller, der noch heute fasziniert. Darin heißt es: „Gleiche Rechte für alle: Männer und Frauen; Freiheit der Überzeugung; Sicherung der Existenz; Frieden der Völker; Kunst, Wissenschaft, Natur ein Gemeingut Aller; Arbeit eine Pflicht für Alle; freie Entwicklung der Persönlichkeit, ungehemmt durch Fesseln der Kaste, der Rasse, des Geschlechts, des Vermögens: wie konnte irgend jemand, der auch nur über seine nächsten vier Wände hinausdachte, sich der Richtigkeit und Notwendigkeit dieser Forderungen verschließen?!“ Lily Braun unterstützte die Kriegspolitik des Kaiserreichs vorbehaltlos. Am 9. August 1916 starb sie in Kleinmachnow infolge eines Schlaganfalles im Alter von 51 Jahren. Ihr einziger Sohn, der talentierte Lyriker Otto Braun, hatte sich bei Kriegsbeginn freiwillig zur Armee gemeldet und fiel im April 1918 an der Somme.