Ein guter Leser werden

Vladimir Nabokov: Die Kunst des Lesens

„Liebevoll und mit zärtlicher Berücksichtigung der Einzelheiten“
erläutert der Autor von Lolita in diesem Band Meisterwerke der
europäischen Literatur.

Das Buch, 1980 posthum herausgegeben, versammelt Vorlesungen über Werke von Jane Austen, Charles Dickens, Gustave Flaubert, Robert Louis Stevenson, Marcel Proust, Franz Kafka und James
Joyce, die Nabokov im Jahr 1948 an der Cornell University in New York gehalten hat.  Sie sind witzig, geistreich und überaus kunstkundig. Sie eröffnen dem Leser neue und überraschende Zugänge zu Werken wie Die Verwandlung, Ulysses oder zu der in jeder Hinsicht fantastischen Erzählung  Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Stevenson, die heutzutage kaum noch jemand kennt.
Das allein sind schon Gründe genug, dieses Buch zu lesen.

Doch noch ein anderer, mindestens genauso wertvoller Gewinn
ergibt sich aus der Lektüre: Nabokov zeigt uns, wie man ein guter und glücklicher Leser wird.  Er führt uns vor, in welcher Haltung wir uns einem Meisterwerk  nähern sollten, damit wir verstehen, wie es funktioniert:

„Wir sollten immer daran denken, dass mit jedem Kunstwerk, ausnahmslos, eine neue Welt erschaffen wird und diese stets als
erstes so gründlich wie möglich erforschen, uns ihr als etwas völlig Neuem nähern, als einer Sache, die keine offensichtliche Verbindung mit den uns bereits bekannten Welten hat.“

Unvoreingenommenes Interesse gepaart mit einem liebevollen Blick auf die Einzelheiten: Der gute Leser versetzt sich in die Rolle eines Detektivs, der „das Geheimnis literarischer Strukturen entschleiern will“.  Nur  so erfahren wir den Zauber der Kunst –  eine prickelnde Mischung aus Erregung und Distanz, die allein eine echte Erweiterung unseres Horizontes  – in intellektueller und moralischer Hinsicht- ermöglicht.

Der gute Leser identifiziert sich also gerade nicht mit dem Helden oder der Heldin eines Romans, er geht vielmehr in eine zärtliche Distanz. Genausowenig erwartet er von Dickens‘ Bleakhouse einen Bericht über das London von  vor hundertundfünfzig Jahren, denn dem guten Leser ist bewusst, dass der Dichter dieses London als Rohstoff für seine poetische Imagination benutzt hat.  Kurz: Der gute Leser, wie Nabokov sich ihn wünscht, ist jemand, der dem Autor in gewisser Weise gleicht,

„jemand, der über Vorstellungskraft, ein Gedächtnis, ein Wörterbuch und eine gewisse künstlerische Einfühlungsgabe verfügt“.

Wenn wir bereit dazu sind, kann uns Die Kunst des Lesens von Nabokov dazu inspirieren, diese Lesertugenden zu entwickeln.

Vladimir Nabokov
Die Kunst des Lesens
Meisterwerke der europäischen Literatur
Herausgegeben von Fredson Bowers
Fischer Taschenbuch
ISBN-10: 3596902800
ISBN-13: 978-3596902804