Heinrich Böll (1917-1985)

„Es gibt nichts, was uns nichts angeht“

Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll forderte kritische Stellungnahmen zu Politik und Gesellschaft von seiner Zunft. Zeit seines Lebens zeigte er sich vom moralischen Auftrag der Literatur überzeugt. Wir erinnern an den unbequemen deutschen Schriftsteller, der vor 100 Jahren – am 21. Dezember 1917 – geboren wurde.

Im aufgeheizten Klima der vom Terror erschütterten Bundesrepublik verunglimpfte man ihn als „Sympathisanten“ der RAF, weil er sich für Sachlichkeit und Mäßigung in der Berichterstattung einsetzte: Heinrich Bölls Artikel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“, 1972 im Spiegel erschienen, löste einen Skandal aus und führte zur polizeilichen Durchsuchung seiner Wohnung. Vor allem an der vermeintlich intimen Anrede entzündete sich die öffentliche Wut; dabei war der Titel eine Zutat der Redaktion – gegen den Willen des Autors. Trotz aller Anfeindungen engagierte sich Heinrich Böll weiter konsequent politisch. 1974 gewährte er dem aus der UdSSR ausgebürgerten Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn Asyl in seinem Haus und empfing den russischen Dissidenten und Weltbürger Lew Kopelew, mit dem er eng befreundet war. 1983 war Böll prominenter Blockierer des US-Militärlagers in Mutlangen und Redner auf der Bonner Friedensdemonstration. Bereits 1969 hatte er Willy Brandt im Bundestagswahlkampf unterstützt. Literatur und gesellschaftliche Verantwortung gehörten für Heinrich Böll untrennbar zusammen.

Heinrich Böll, Sohn eines Kunsttischlers und Bildhauers, wird am 21. Dezember 1917 in Köln geboren und wächst zusammen mit sieben Geschwistern in einem kleinbürgerlich und katholisch geprägten Milieu auf. Seine ausgeprägte Bindung an Familie, Religion und Region – die „Gebundenheit an Zeit und Zeitgenossenschaft“, wie es Böll später formulierte, sollte sein literarisches Werk entscheidend beeinflussen. Bereits mit 17 Jahren beginnt er, Gedichte zu schreiben. 1937 macht er in seiner Heimatstadt Abitur. Nach einer abgebrochenen Lehre als Buchhändler in Bonn und dem Reichsarbeitsdienst schreibt er sich an der Universität Köln in den Fächern Germanistik und Altphilologie ein, wird jedoch kurz darauf zur Wehrmacht eingezogen. Als Soldat an der West- und Ostfront gerät er bei Kriegsende in Gefangenschaft. Im September 1945 kann er zu seiner Frau Annemarie Cech, einer Lehrerin, nach Köln zurückkehren und sein Studium wieder aufnehmen. Bis 1950 werden drei Söhne geboren.

In den Nachkriegsjahren trägt Böll zunächst mit Gelegenheitsarbeiten zum Unterhalt der Familie bei; doch das Schreiben wird immer bedeutsamer für ihn. 1947 debütiert er mit Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften; 1949 erscheint sein erstes Buch, die Erzählung „Der Zug war pünktlich“. Ein Sammelband mit Kurzgeschichten folgt 1950 unter dem Titel „Wanderer kommst du nach Spa…“ Seit 1951 arbeitet Heinrich Böll als freier Schriftsteller. Es ist das Jahr, in dem er für seine Satire „Die schwarzen Schafe“ den Preis der Gruppe 47 erhält und in dem sein ergreifender Antikriegsroman „Wo warst Du, Adam?“ erscheint. Auch der 1953 veröffentlichte Roman „Und sagte kein einziges Wort“ – die Ehegeschichte eines Kriegsheimkehrers – steht im Bannkreis traumatischer Erfahrungen in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Im Taumel des Wiederaufbaus und der Wirtschaftswunderzeit, die vor allem das Vergessen propagiert, mahnt Heinrich Böll: „Der Krieg wird niemals zu Ende sein, solange noch eine Wunde blutet, die er geschlagen hat.“

In den fünfziger Jahren wird Böll zu einem bedeutenden Vertreter der westdeutschen Nachkriegsliteratur, die an die Tradition nonkonformistischer und sozialkritischer Werke in der Weimarer Republik anknüpft. Er schreibt Gedichte, Romane und Erzählungen, wie „Haus ohne Hüter“ und „Das Brot der frühen Jahre“ (1962 verfilmt); er reist nach Irland und in die UdSSR und verfasst Reiseberichte wie das heute noch beliebte und 2007 wieder neu aufgelegte „Irische Tagebuch“. Zusammen mit seiner Frau Annemarie arbeitet Böll auch als Übersetzer englischer, irischer, amerikanischer und australischer Literatur. Zahlreiche Auszeichnungen begleiten seine Karriere, darunter 1967 die bedeutendste deutsche Ehrung für Autoren, der Georg-Büchner-Preis. 1972 erhält er den Nobelpreis für Literatur – als erster deutscher Autor seit 43 Jahren.

Von 1970 bis 1974 setzt sich Heinrich Böll als Präsident des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland und des Internationalen P.E.N.-Clubs für die sozialen Belange von Autoren sowie für verfolgte Schriftsteller in aller Welt ein. Sein besonderes Interesse gilt der Aussöhnung zwischen Deutschland und den osteuropäischen Ländern, während er sich in Deutschland selbst – mittlerweile zu einer hochangesehenen moralischen Institution geworden – vehement gegen Repression und Aufrüstung einsetzt. Nach den vielgelesenen Romanen „Billard um halbzehn“ (1959), „Ansichten eines Clowns“ (1963) und „Gruppenbild mit Dame“ (1971; 1977 mit Romy Schneider verfilmt) erschien 1974 sein erfolgreichstes Werk, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ – eine Erzählung über die menschenverachtenden Auswirkungen des Sensationsjournalismus. 1975 erscheint die satirische Kurzgeschichte „Berichte zur Gesinnungslage der Nation“.

Da Bölls Werke fast immer in Bezug stehen zu den gesellschaftlichen Herausforderungen seiner Zeit, nannte sie Wolfram Schütte einen „fortlaufenden Kommentar zur Geschichte Nachkriegsdeutschlands“. Wie kein zweiter begleitete Böll Generationen von Lesern auf ihrem Weg durch Krieg, Restauration, Reformära und die Zeit der konservativen Wende in den 80er Jahren. Diese literarisch gestaltete und zutiefst moralisch engagierte Zeitzeugenschaft ist der Kern seiner Arbeit. Oft wurde ihm von der Kritik vorgeworfen, seine Erzählmuster seien konventionell, seine Technik manchmal unbeholfen. Doch Literatur, so forderte Böll, müsse auch einem breiten Publikum zugänglich und verständlich sein; Ästhetizismus und Avantgardismus waren seine Sache nicht. So trug er mit seinen Werken, die in viele Sprachen übersetzt wurden, entscheidend dazu bei, dass das im Ausland lange fortlebende Bild des „hässlichen Deutschen“ revidiert wurde.

1983 wurde er zum Professor ernannt und erhielt die Ehrenbürgerwürde der Stadt Köln. Heinrich Böll starb am 16. Juli 1985 nach langer Krankheit in Langenbroich. Sicherlich hätte er, der in den 70er Jahren Rupert Neudecks Initiative zur Rettung der vietnamesischen boat people unterstützte, in der aktuellen Flüchtlingsdebatte vehement an unsere Verantwortung appelliert. Denn: „Es gibt nichts, was uns nichts angeht“.